

Ein Jahr auf einem Segelschiff, auf engstem Raum, mitten auf dem Ozean: Wer bei der Regatta „Clipper Round The World“ teilnimmt, stellt sich einer riesigen Herausforderung, vor allem sozial. Das Zusammenleben mit 20 fremden Leuten, eingesperrt in einem Schuhkarton auf See, aus dem keiner ausbrechen kann, wurde für mich zur größten Herausforderung des Race – was ich nie gedacht hätte. Mit der Zeit aber hat sich das Team gefunden und bei der Regatta tolle Erfolge verzeichnet.

Vorweg einige Fakten: Die Crew der „Ha Long Bay Vietnam“ besteht aus insgesamt 64 Mitgliedern, 46 Männern und 18 Frauen. Diese sind jedoch nie alle gleichzeitig an Bord, denn:
Lediglich acht Mitglieder haben sich für die komplette Weltumseglung entschieden. Die anderen segeln einzelne oder einige wenige Etappen mit, gehen in einem Hafen an Bord und verlassen die „Ha Long Bay“ im anderen wieder. Meistens sind knapp 20 Crewmitglieder zeitgleich auf dem Segelschiff, in einigen „Legs“ – wie die Abschnitte des Rennens genannt werden – sind es weniger.
Die Etappen dauern mehrere Wochen. Das bedeutet, dass die Seglerinnen und Segler über einen langen Zeitraum zusammen reisen, essen, leben. Angekommen in einem Hafen, gibt es eine kleine Pause vom Leben an Bord, ein paar Tage Abwechslung mit der Möglichkeit, sich die Gegend anzuschauen, etwa durch Montevideo zu cruisen. Aber als Urlaub ist die Segelunterbrechung nicht aufzufassen:
Meistens gibt es genug zu tun – Reparaturen am Schiff, Einkäufe, Telefonate, Mails.
Die Crewmitglieder kommen aus 21 Nationen, der jüngste Segler ist 29 Jahre alt, der älteste 70. Verschiedene Generationen, verschiedene kulturelle und professionelle Hintergründe treffen aufeinander. Viele Teammitglieder standen bereits 25 bis 30 Jahre im Berufsleben, sind gefestigte Persönlichkeiten. Nicht alle sind bereit, sich etwas sagen zu lassen und sich auf andere einzustellen.
An Bord, auf engstem Raum gibt eine Menge Konfliktpotenzial. Es fängt bei Kleinigkeiten an:
Wo und wie lässt jemand seine Sachen liegen? Legt er ausgerechnet sein nasses Handtuch auf meinen trockenen Schlafsack? Nimmt jemand Rücksicht und spricht leiser, wenn andere schlafen? Wie wecken die Crewmitglieder sich gegenseitig, wenn ein Wachwechsel ansteht? Durch Ruckeln an der Schulter oder etwas liebevoller – wie es eine Seglerin macht – mit verschiedenen Tiergeräuschen? Und wie ist es beim Erledigen der täglichen Arbeit? Sind es immer die gleichen, die anpacken?
Auf der „Ha Long Bay“ bildeten sich Rollen heraus, einige Crewmitglieder blieben passiv, andere engagierten sich proaktiv, wieder andere wollten das Kommando übernehmen. Diese Dynamiken entwickeln sich auf einem Schiff intensiver und schneller als zum Beispiel in einem Büro, wo alle abends wieder nach Hause gehen. An Bord verbringt man 24 Stunden am Tag miteinander.
So kommen die Eigenheiten der Crewmitglieder schnell zum Vorschein, Konflikte kochen rasch hoch.
Auch eine Segelcrew wie die der „Ha Long Bay Vietnam“ durchlebt die klassischen vier Phasen des Teambuilding: das Forming, Storming, Norming und Performing. Nach dem Psychologen Bruce Tuckman, dem Entwickler des Modells, sind alle Phasen notwendig und unvermeidlich.
Nach dem Zusammenkommen des Teams, der Forming-Phase, beginnt das Storming: Die Mitglieder lernen sich auf positive, aber auch auf negative Art und Weise kennen. Erste Konflikte entstehen. Etabliert sich eine konstruktive Streitkultur, können diese überwunden werden. Ist das nicht der Fall, kann es sein, dass die gleichen Konflikte im Laufe der Zeit immer wieder auftreten.
Das Kochen und Essen an Bord, der Mangel an Schlaf aufgrund der Nachtwachen – jedes einzelne Crewmitglied hat schon für sich allein mit der besonderen Situation auf dem Schiff zu kämpfen. Die größte Herausforderung aber ist das Zusammenleben – und es so zu organisieren, dass es funktioniert. Denn unterm Strich ist immer jemand im Weg und auch man selbst ist oft jemandem im Weg. Daher braucht es auf einem Segelschiff ein besonderes Maß an gegenseitiger Achtsamkeit und Rücksichtnahme, um sich als Team zu arrangieren – angefangen bei der Frage, wo man seine nassen Sachen liegen lässt.
In Leg 1 der Regatta war die Crew der „Ha Long Bay“ kein eingespieltes Team, kein Raceteam. Auch bei den Rennen schnitt sie (noch) nicht besonders gut ab, belegte eher hintere Plätze. Das änderte sich: Die Crew fand sich und lag schließlich auch bei den Rennen weiter vorne.
Auch durch Änderungen in der Teamgröße und Teamorganisation festigte sich nach den ersten Legs die Struktur. Die Crew verkleinerte sich, die Mitglieder an Bord konnten sich besser aufeinander einstellen. Hinzu kam, dass das Team vom Zweiwach- ins Dreiwachsytem wechselte.
Was bedeutet das?
Zu Beginn der Regatta hatte sich die Crew nach dem Zweiwachsystem organisiert. Dabei wird die Mannschaft in zwei Hälften geteilt, die eine ist wach und segelt, die andere schläft oder erledigt Dinge wie Essen, Hygiene, Lesen, E-Mails schreiben. Im Zweiwachsystem teilen sich jeweils zwei Crewmitglieder ein Bett – bei der Ablösung wird die Matratze umgedreht. Über Tag folgt der
Wachwechsel nach sechs Stunden, in der Nacht – die komplett durchgesegelt wird – nach vier Stunden.
Im Dreiwachsystem wird die Crew in drei Gruppen eingeteilt: Eine Wache segelt, eine kümmert sich als „Stand-by-Team“ ums Bordbuch, Putzen und Kochen. Die Mahlzeiten sind komplett durchgeplant und möglichst einfach gehalten: Für jeden Tag gibt es eine Dry Bag, in der sich diegesamte Verpflegung befindet: Brot, Kochzutaten, Gewürze, Kuchen sowie der Speiseplan. Der wiederholt sich alle sechs Tage. Jede und jeder ist in regelmäßigen Abständen mit Kochen an der Reihe. Gegessen wird um 8, 12 und 20 Uhr. Wer seine Wache um 12 antritt, isst bereits um 11.30 Uhr.
Das dritte Team, die Freiwache, hat acht Stunden am Stück frei und somit die Chance auf mehr Schlaf als im Zweiwachsystem. Im Wechsel bekommt jedes Wachteam zwei Wachrhythmen mit Longsleep-Phasen hintereinander – was einen großen Unterschied macht. Denn: Die Arbeit an Deck erfordert viel Konzentration und körperliche Anstrengung. Vor allem wenn man nicht ausgeschlafen ist, kann sie sehr energieraubend sein. Auch neigen Menschen dann zu Gereiztheit – und das Risiko für Fehler steigt. Schon zwei Stunden mehr Freizeit und etwas mehr Schlaf können entscheidend sein.
Zunächst wurde an kleinen Arbeitsabläufen erkennbar, dass das Team sich entwickelte: Die Crew schaffte es, auch mal in sechs Minuten ein Segel zu wechseln, wofür sie vorher zum Teil eine halbe Stunde gebraucht hatte. Die Kommunikation lief besser, alle boten ihre Hilfe an. Neben den Regeln,
die aufgestellt wurden, sprachen die Crewmitglieder auch Dinge an, die besser hätten laufen können. Ich nenne diese Aussprachen „reinigende Gewitter“, wobei sie auf der „Ha Long Bay“ keine Gewitter waren, sondern konstruktive Gespräche, die am Ende alle zusammenschweißten.
Auch die gemeinsame Mission förderte den Zusammenhalt – wobei ich erst einmal lernen durfte, dass nicht alle Crewmitglieder aus den gleichen Motiven beim Rennen angetreten waren. Ich möchte racen, ganz vorne dabei sein, gewinnen. Andere nehmen teil, weil sie ein Abenteuer erleben oder die Natur genießen wollen. Das war im Teambuilding-Prozess für mich ein Learning – einen Schritt zurückzutreten und zu akzeptieren, dass nicht alle mit dem Ziel an Bord gegangen waren, „Clipper Round The World“ zu gewinnen.
Wir schafften es, unsere verschiedenen Motivationen unter einen Hut zu bringen. Im ersten und zweiten Leg segelten wir unter dem Leitsatz „Wir wollen nicht Letzter werden“. Dieser Satz war zu negativ formuliert, um ein Team auf Erfolg zu programmieren. Menschen überlesen das Wort „nicht“ meistens – was hängen bleibt: „Letzter werden“. Zu Beginn war es das erste Ziel, die Segelwechsel problemlos zu schaffen und nichts kaputtzumachen. Als sich die Zusammenarbeit besserte, wurde aus dem „Wir wollen nicht Letzter werden“ der Satz „Wir haben die Chance, es zu gewinnen!“
Auf der Etappe von Kapstadt nach Fremantle in Australien zeigte sich schließlich besonders deutlich, wie viel besser die Crew zusammenarbeitete. Einen Teil der Strecke segelten die „Ha Long Bay“ und die anderen Crews an der Eisgrenze. Es war kalt, nass. Schon das Anziehen der feuchten Kleidung war unangenehm und dauerte bis zu einer halben Stunde. Nur durch die Körperwärme wurden die Sachen wieder warm. Aber gerade diese Herausforderung schweißte das Team noch einmal mehr zusammen. Die Crew kämpfte – und kämpfte sich auch beim Rennen an die Spitze.
Die „Ha Long Bay“ gewann den Ocean Sprint, segelte auf Platz eins und kam als erste Crew in Fremantle an. War die „Ha Long Bay“ bei den vorherigen Etappen noch auf den hinteren Plätzen gesegelt, lag sie jetzt vorne. Ein Erfolg, der unserer Crew weiteren Aufwind gab. Motivation pur.
Der Sieg beim Rennen ist allerdings nicht die einzige Motivation. Auch das Einschwören auf ein gemeinsames Ziel, das Verfolgen aller Teams auf dem „Race Viewer“ und die tägliche, körperlich anstrengende Arbeit schweißen zusammen – und von der gibt es reichlich: Wenn so ein Spinnaker, ein großes, bauchig geschnittenes Vorsegel gewechselt wird, dauert es schon einmal eine Stunde, bis es wieder zusammengerollt ist. Man kann es sich wie das Zusammenlegen eines Fallschirms vorstellen – eine mühsame Aufgabe und nur eine von vielen.
Für mich persönlich gab es auf einer Etappe noch einen weiteren besonders schönen Team-Moment, der aus einer misslichen Lage entstand:
Der Kompressor unseres Wassermachers ging kaputt. Den Wassermacher benötigt die Crew aber dringend, um 200 Liter Wasser pro Tag aufzubereiten. Dabei wird Meerwasser unter sehr hohem Druck durch einen Filter gepresst.
Das Wasser aufbereiten ist meine Aufgabe – und so habe ich 36 Stunden am Stück damit verbracht, an dem Gerät herumzuschrauben und es schließlich zu reparieren. Als Dankeschön für meinen Einsatz hat mich das Team zwei Wachen hintereinander ausschlafen lassen – eine tolle Geste! Ich habe es als extrem teamfähig empfunden, dass meine Arbeit von allen Crewmitgliedern so honoriert wurde.